Amalfiküste: Auf göttlichen Pfaden

Die Götter lassen sich nicht lumpen. Einen seidig blauen Himmel spannen sie an diesem Morgen über ihren Lieblingen, den Wanderern aus, der draußen über der türkisen See einen wattigen Saum weißer Wolken trägt. Offenbar schätzen sie Irdische, die auf ihren Spuren wandeln. Denn auf diesem Pfad zwischen Positano und Bomerano, dem Sentieri degli Dei, waren auch Zeus und die Seinen unterwegs, hinaus zu den Inseln Li Galli, wo die fabelhaften Vogel-Mensch-Sirenen jeden, der vorbei kam, mit ihrem Gesang betörten.

Entrücktes Wandeln war freilich damals schon nicht angesagt. Der sieben Kilometer lange Weg führt 600 Meter über dem Meer steinig und unbefestigt an steilen Abhängen entlang, hoch und hinunter über felsige Stufen, durch lauschige Steineichenwälder, an Zistrosen, Kakteen und Rosmarin vorbei. Knie, Waden und waches Auge sind gefordert. Und nach jeder Kehre hält, wer immer hier wandert, erneut inne, schüttelt den Kopf und murmelt: Grandios! Grauweiß, von flauschigem Grün locker bewachsen, fallen die zerklüfteten Steinwände der Berge steil ab ins Meer. Auf manchen hat die Natur dekorativ eine Schirmpinie aufgespannt, und dahinter zerfließen fern im Dunst die Umrisse der Insel Capri. Von unten leuchten manchmal Dörfer strahlend weiß. Später, im Abendlicht, schimmern sie wie mit goldenem Zucker bestäubt.

Die amalfitanische Küste auf der Halbinsel von Sorrent, südlich von Neapel, ist zweifellos eine der schönsten der Welt. Das weiß längst auch der größte Teil der Reisenden dieser Welt und schaut gerne selbst vorbei, um sich zu vergewissern, weshalb die Orte mit den legendären Namen im Sommer überquellen vor Besuchern. Die Alternative heißt: Wandern. Die verschärfte Variante: Wandern im Frühling. Zwar verzichtet man zu dieser Zeit auf die Blumenfülle und die Duftexplosionen des Sommers, genauso wie auf das Vergnügen, von hoch oben den waghalsigen Rangiermanövern der Busfahrer auf der gewunden Küstenstraße zuzusehen. Dafür teilt man sich Küste, Berge und Städte mit fast niemandem.

Gut sitzt man dann etwa lediglich zu zweit im berühmten "Bacco" in Furore vor dem künstlichen Kaminfeuer. In mehreren Ordnern hat Antonio Ferraiolo die Schwärmereien der internationalen Gastronomiekritik über seine Küche gesammelt. Und auch heute stellt er aromatische Nudeln mit Schwertfisch, Tomaten und Rucola auf den Tisch und nimmt sich Zeit für seine Gäste.

Die Küste ist göttlich - aber auch hier haben sie sehr irdische Sorgen: der Müll des nahen Neapel, die Mafia, die damit rücksichtslos Geschäfte macht, und der dadurch ramponierte Ruf. Unlängst hat die Zeitung "Metropolis" in Sorrent von der Entdeckung sieben illegaler Deponien auf der Halbinsel berichtet. Die Hotelbuchungen sind rückläufig, selbst Gemüse und Käse aus der Region stoßen mittlerweile auf Misstrauen. Auch beim Wandern fallen sie immer mal wieder ins Auge: alte Abfallgruben mitten in der Natur, in denen sich Kühlschränke, Autoreifen und verrostete Matratzen türmen - manchmal wünscht man sich Zeus mit Blitz und Donner herunter!

Am eindrücklichsten ist die große Wanderung von Sorrent über die Halbinsel nach Positano und von dort entlang der Küste bis Salerno. Perfekt verbinden sich während der fünf Tage dramatische Landschaft und klassische Architektur, schwitzende Anstrengung und entspanntes Tafeln, alltäg-liche italienische Lebensart und modernes Touristen-dolce-vita.

Im 60-, 70-, 80-Grad-Winkel schieben sich die weißen, beigen und cremefarbenen Kastenhäuser von Positano im Halbrund die Hänge hinauf, ein Amphitheater der Reichen und Schönen und Schröders dieser Welt. "Wenn wir an jedem Zimmer, in dem ein Prominenter übernachtet, eine Tafel anbringen würden", erklärt blasiert der Bürgermeister, "würden wir die Stadt ja zupflastern." Rundbögen, Arkaden und flache Kuppeldächer verleihen Positano arabische Züge. Die Stadt ist hübsch, aber sie ist auch schnöselig. Positano hat seine Seele dem Tourismus verschrieben, seine Innenstadt mit Kunstgalerien, Delikatessenläden und Boutiquen mit farbigen Hängekleidern vollgestellt und bezahlt dafür außerhalb der Saison ab abends um acht mit ausgestorbenen Gassen.

Ganz anders dagegen Amalfi. Natürlich haben die Amalfitaner Samstagabend ihre Schuhgeschäfte, Drogerien, Spielzeugläden und Gemüsestände geöffnet. Vespas knattern durch die enge Hauptstraße, Frauen schleppen Einkaufstüten durch die weißgetünchten, überdachten Seitengänge, die sich wie ein Labyrinth verzweigen. "Der jüngste Tag wird für Amalfitaner, die ins Paradies eingehen, ein Tag wie jeder andere sein", steht auf einer Tafel im Torbogen zum Hafen. Und der Wirt in der Bar "Protontino" setzt noch einen drauf: "Dies ist ein gottgesegneter Landstrich. Wer hier klagt, begeht eine Sünde."

Auch Ravello, 350 Meter höher am Hang, gehörte einst zur mächtigen Seerepublik Amalfi. An verfallenen Ruinen ehemaliger Papierfabriken vorbei führt der Weg durchs Mühlental nach oben. Wie grüner Schimmel ziehen sich Hagelschutznetze über den Hang. Aus dem Dunkel darunter leuchten prall die berühmten tyrrhenischen Zitronen. Als Seife, in Wachs, auf Küchenschürzen und Keramik, in Limoncello-Likörflaschen und Marmeladengläsern findet sich das Markenzeichen der Küste in jedem Laden mit "prodotti tipici".

In Ravello hat sich seit dem 19. Jahrhundert so mancher Besucher aus dem Norden "selbst gefunden und verwirklicht".
William Turner malte seine Seestücke, Richard Wagner schrieb einen Teil des "Parsifal" und die Garbo frönte mit dem Dirigenten Stokowski der Sünde. Exzentrische Engländer namens Reid und Becket kauften Schutthaufen namens Villa Rufulo und Villa Cimbrone, ließen ausgraben, restaurieren und gaben ihrer Leidenschaft für Blickachsen, Baumriesen, Alabasterstatuen und Pergolen nach. Das Ergebnis sind eingewachsene Parks und romantisches Gemäuer. Auf der "Terrasse der Unendlichkeit" der Villa Cimbrone thront der Besucher vorgelagert über schwindelnder Tiefe, weiße Marmorbüsten gliedern den Blick aufs heute mal azurblaue Meer.

So unterschiedlich wie die Städte sind die Wanderstrecken. Mal führen Hunderte von gemauerten Stufen den Berg hinan und gehen in Natursteintreppen über. Dann wieder zieht sich der Weg durch Olivenhaine und vorbei an Gärten mit erstem Lauch, Bohnen und Salat. Senf und Mimosen blühen knallgelb, Feigen schieben frisches Grün, kleine und große Promenadenmischungen begleiten den Wanderer als kläffende Stafette durch jedes Dorf. Und immer wieder Ausblicke wie vom Adlerhorst.

Die Picknickpause wird zur Offenbarung: So schmeckten einst Orangen, nicht wahr! Und das, das ist Mozarella: leichte, mürbe Ballen mit unterschiedlichen Aromen von Käserei zu Käserei - nicht jene geschmacksfreie Gummimasse, die armen deutschen Gaumen zugemutet wird.

Anderntags recken in 900 Meter Höhe alte Kastanien knorrige Äste, Nebelfetzen jagen durch einen Wald grüner Zypressenlanzen, bemooste Aquaedukte und runde Kalköfen verfallen im Gestrüpp. Und immer, wenn dem Wanderer die Puste auszugehen droht, stößt er auf geistigen Beistand: Eine Statue, ein Bild, ein Ewiges Licht - wobei Pater Pio mittlerweile in der Gunst der Gläubigen die Jungfrau Maria abgelöst zu haben scheint.

Sonntagabend in Cetara. Auf dem kleinen Platz am Hafen gehen die Lichter an. Männer in Anzügen stehen zusammen und reden in ihrem südlichen Dialekt. Über die Thunfischfänge der letzten Tage reden sie, die Niederlage des SSC Napoli gegen Juventus und die neuesten Müllfunde. Jetzt, mit müden Beinen, in der Abenddämmerung einen ersten kühlen Weißwein nippen! Stimmen schwirren, Kinder kicken, am Strand bastelt einer mit Lampe an seinem Boot. Und im "Convento" warten schon Spaghetti mit Kapern, Zitrone und Colatura, der lokalen Fischsoße, die aus Sardellen gewonnen wird. So viel besser kann es den Göttern einst auch nicht ergangen sein.

Fotos: Franz Lerchenmüller

Den Artikel „Auf göttlichen Pfaden“ stellte uns freundlicherweise Herr Franz Lerchenmüller zur Verfügung. Er ist erschienen in seinem Buch Leichtes Gepäck - Wandern und Trekking in Deutschland und der Welt,erschienen im Delius Klasing Verlag, Bielefeld, 2008.

Von Sorrent nach PositanoVon der Villa Rufoli, Ravelle, nach Osten in Richtung SalemoFrüchte des MeeresGarten in RavelloPositanoHagelschutz im Mühlental bei AmalfiAmalfi: Andreasbrunnen und DomHändler mit dem Markenzeichen der KüsteVon Amalfi nach CetaraHistorische Bar Moderno in Cetara
10 Fotos
amalfikueste-auf-goettlichen-pfaden
281
Berichte

Wege und Ziele

nr65nov23Ausgabe 65, November 2023
nr64apr23Ausgabe 64, April 2023
nr63nov22Ausgabe 63, November 2022
nr62april22Ausgabe 62, April 2022
nr61nov21Ausgabe 61, November 2021
nr60apr21Ausgabe 60, April 2021
nr59dez20Ausgabe 59, Dezember 2020
nr58dez19sonderSonderbeilage, Dezember 2019
nr58dez19Ausgabe 58, Dezember 2019
nr57mai19Ausgabe 57, Mai 2019
nr56nov18Ausgabe 56, November 2018
nr55mai18Ausgabe 55, Mai 2018
nr54dez17Ausgabe 54, Dezember 2017
nr53aug17Ausgabe 53, August 2017
nr52apr17Ausgabe 52, April 2017
nr51dez16Ausgabe 51, Dezember 2016
nr50aug16Ausgabe 50, August 2016
nr49apr16Ausgabe 49, April 2016
nr48dez15Ausgabe 48, Dezember 2015
nr47aug15Ausgabe 47, August 2015
nr46apr15Ausgabe 46, April 2015
nr45dez14Ausgabe 45, Dezember 2014
nr44aug14Ausgabe 44, August 2014
nr43apr14Ausgabe 43, April 2014
nr42dez13Ausgabe 42, Dezember 2013
nr41aug13Ausgabe 41, August 2013
nr40apr13Ausgabe 40, April 2013
nr39dez12Ausgabe 39, Dezember 2012
nr38aug12Ausgabe 38, August 2012
nr37apr12Ausgabe 37, April 2012
nr36dez11Ausgabe 36, Dezember 2011
nr35aug11Ausgabe 35, August 2011
nr34apr11Ausgabe 34, April 2011
nr33dez10Ausgabe 33, Dezember 2010
nr32aug10Ausgabe 32, August 2010
nr31apr10Ausgabe 31, April 2010
nr30dez09Ausgabe 30, Dezember 2009
nr29aug09Ausgabe 29, August 2009
nr28apr09Ausgabe 28, April 2009
nr27dez08Ausgabe 27, Dezember 2008
nr26aug08Ausgabe 26, August 2008
nr25apr08Ausgabe 25, April 2008
nr24dez07Ausgabe 24, Dezember 2007
nr23aug07Ausgabe 23, August 2007
nr22apr07Ausgabe 22, April 2007
nr21dez06Ausgabe 21, Dezember 2006
nr20aug06Ausgabe 20, August 2006
nr19apr06Ausgabe 19, April 2006
nr18dez05Ausgabe 18, Dezember 2005
nr17aug05Ausgabe 17, August 2005
nr16apr05Ausgabe 16, April 2005
nr15dez04Ausgabe 15, Dezember 2004
nr14aug04Ausgabe 14, August 2004
nr13apr04Ausgabe 13, April 2004
nr12dez03Ausgabe 12, Dezember 2003
nr11aug03Ausgabe 11, August 2003
nr10apr03Ausgabe 10, April 2003
nr09dez02Ausgabe 09, Dezember 2002
nr08okt02Ausgabe 08, Oktober 2002
Zur Bereitsstellung unserer Dienste verwenden wir Cookies. Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, dass Cookies auf Ihrem Rechner gespeichert werden, können Sie dies ablehnen. Möglicherweise werden dann unsere Dienste nicht im vollem Umfang funktionstüchtig sein.