Die Weite des Nordens

Die Idylle trügt. Aus einfachen, mit Gras-Soden gedeckten Lappen-Katen ragen Fernsehantennen in den Himmel. So urtümlich die Hütten der Samen hier oben im Norden Schwedens auch wirken, längst hat die Moderne Einzug gehalten. Zweimal am Tag stellt ein Linienflug per Helikopter die Verbindung zwischen Saltoluokta, einem Sommerlager der Rentier-Hüter mitten im Padjelanta-Nationalpark, und den nächsten beiden Straßen jeweils achtzig Kilometer entfernt in Kvikkjokk und Ritsem her. Schließlich wollen die letzten Nomaden Europas an der Mobilität des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts teilnehmen. Und auch am Wohnkomfort: Moderne Blockhäuser verdrängen die mit Gras-Soden gedeckten, einfachen Hütten aus dünnen Birkenstämmen. Aus einer der neueren Katen aber ragt keine Fernseh-Antenne, sondern ein Kreuz in den nordischen Himmel. Bei ihrer Kirche halten die Samen an der Tradition fest, auch der Boden im Innern des nordischen Gotteshauses ist schlicht mit Reisig gepolstert.

Oder ist die Kirchen-Kate schlicht eine unauffällige Verbeugung vor der Entscheidung der Weltkulturorganisation UNESCO, die den Padjelanta-Nationalpark mitsamt den benachbarten Reservaten Sarek, Stora Sjöfallet und Abisko zur World Heritage Site erklärt hat? Egal, wir lassen die wenigen Behausungen in der schattigen Morgenkühle am See ohnehin rasch hinter uns.

Durch üppiges Weidengestrüpp führt unser Pfad anscheinend direkt in den tiefblauen Himmel. Zu unserer Linken, im Westen weitet sich der Blick über den grünblauen Virihaure-See bis zu den Bergen am anderen Ufer, die zum Teil bereits zu Norwegen gehören. Gletscher funkeln von dort herüber, Schneefelder blinken in der Sonne, graue Felsen schlucken das Licht.

Ein wenig schweißtreibender Anstieg und wir stehen vor einem Gewirr kleiner Seen. Das Schilf direkt am Ufer und die eisgepanzerten Zweitausender des Sarek-Massivs im Osten spiegeln sich im glasklaren Wasser. Wenn nicht gerade eine Kröte hineinspringt und das idyllische Bild mit einer halbkreisförmigen Wellenfront zum Zittern bringt. Direkt neben dem schmalen Pfad sonnt sich ein großer Käfer.

Eine sumpfige Stelle überquert der Pfad auf breiten Holzbohlen. Lemminge huschen unter die Bretter, als sie uns entdecken. Einem der hamstergroßen Tiere aber haben wir den Rückweg abgeschnitten. Schwarze Knopfaugen in weißbraunem Fell mustern uns mißtrauisch. Als wir einen Schritt nähertreten, wird es dem Nager zuviel. Nicht etwa Weglaufen lautet die Parole. Nein, Angriff ist die beste Verteidigung. Wütend springt er ein Stück vor, faucht uns drohend an, entblößt seine messerscharfen Schneidezähne. Bevor uns der Lemming die Hosen zerfetzt oder gar in die Wade beißt, ziehen wir uns lieber ein Stückchen zurück. Und husch verschwindet er in seiner Höhle.

Ein Stückchen weiter glauben wir plötzlich eine Bewegung im bräunlichen Sumpf zu unserer Rechten zu sehen. Ein genauer Blick zeigt uns - nichts, außer Sumpf. Aber halt, ist da nicht ein roter Fleck? Richtig, mucksmäuschenstill steht das Schneehuhn dort, seine braunen Federn scheinen mit dem bräunlichen Sumpf zu verschmelzen. Nur der rote Ring um die Augen, die uns ängstlich mustern, haben den Vogel verraten. Gurrend rennt das Schneehuhn ein Stückchen weiter, verschmilzt hinter einem Felsbrocken erneut fast mit dem Untergrund. An seinem Bauch färben sich bereits die ersten Federn weiß, deuten den nahenden Winter an, der hier oben in Lappland schon Mitte September Schnee bringen kann. Nur im Notfall fliegt das Schneehuhn auf, lieber verläßt es sich auf seine Tarnung, trippelt vorsichtig ein Stückchen weiter von uns weg und mustert uns erneut.

Tief unter uns ein Gewirr kleiner Seen, dahinter der Virihaure mit seinen unzähligen Buchten, eingerahmt von grauen Felsen. Kein Ferienhaus stört den Blick, kein Zaun grenzt ein Seegrundstück von seinem Nachbarn ab. Die Samen nutzen die Wiesen im Sommer gemeinsam, weiden ihre halbwilden Rentiere hier. Weiter hinten, an der Aras-Bucht stehen die Hütten eines anderen Stammes als Sommerlager am Virihaure-See. Sonst findet sich abgesehen von vielleicht zehn oder zwanzig Wanderern, die an einem typischen Tag im Juli oder August hier durchlaufen, kein Einfluß des Menschen im Padjelanta-Nationalpark. Eine der letzten weitgehend unberührten, weitläufigen Landschaften Europas nennt die UNESCO das und hat deshalb das Prädikat Welterbe der Menschheit verliehen.

Die paar Fernsehantennen auf den Lappen-Katen und Hütten in Arasluokta stören diesen Eindruck kaum. Mächtig ragen die dunklen, Gletscher-gekrönten Felsmassive des Sarek herüber. Kristallklar donnert das Wasser des mächtigen Miellätno über die Stromschnellen unter der schwankenden Hängebrücke, auf der wir den Fluß überqueren. Bedenkenlos kann man das Wasser aus den Flüssen im Park trinken. Den Hunger stillen wir mit Blaubeeren, die an den Zwergbüschen am Hang hinter dem Miellätno hängen.

Nicht immer sitzen wir genüßlich in den Blaubeerbüschen und lassen uns die Sonne aufs Haupt brennen. Drei Tage vorher hängen die Wolken zum Beispiel tief in den Bergen, als wir aus der Tarreluopalhütte aufbrechen. Der Südostwind drückt uns in den Rücken, zum Glück regnet oder schneit es zumindest nicht. Ein verspäteter Rosenwurz blüht hier, die Blüten des stengellosen Leimkrautes nicken in der frischen Brise, gelb leuchtet uns der Gletscher-Hahnefuß entgegen. Windgepeitscht liegen die Seen auf der rund 950 Meter hoch gelegenen Hochebene vor uns, kein Wetter zum gemütlichen Pausieren.

Selbst ohne Fernsicht zu den glitzernden Gletschern Norwegens oder des Sarek aber ist diese Landschaft einmalig. Über graue Seen in einer grauen Schiefer-Landschaft pfeift der Wind und holt uns die Wärme aus dem Leib. Schneewächten säumen selbst im Spätsommer noch die Ufer. Reißen die Wolken für einen Moment auf, taucht die Sonne das Seengewirr in ein fast überirdisches Licht. Über Flechten und durch braunen Sumpf, in dem Wollgras sich den Böen beugt, schlängelt sich der Pfad an winzigen Weihern vorbei.

Urplötzlich tauchen die Tuottarhütten vor uns auf. Die Hüttenwirtin begrüßt uns freundlich. Als wir ihr den Brief einer Freundin aus dem fernen Stockholm geben, den wir seit vier Tagen mit uns tragen, strahlt sie uns an. Postboten gibt es in der Einsamkeit des Nordens keine, also fungieren Wanderer als Briefträger. Im Gegenzug erhalten wir Schokolodenkugeln geschenkt, die sie sonst an Wanderer verkauft. Und einen Brief möchten wir doch bitte mitnehmen und aufgeben, wenn wir wieder die Zivilisation erreichen.

Das wird aber noch ein paar Tage dauern. Am nächsten Tag jedenfalls hängen die grauen Wolken noch tiefer. Kaum haben wir die Furt unterhalb der Hütte durchwatet, frischt der Wind kräftig auf. Nach der zweiten Furt, nur wenige Hundert Meter weiter, erwischt uns dann eine erste Regenböe. Die herrlichen Berge verschwinden in brodelnden, grauen Wolkenmassen, der Weg wird bald matschig. Nur die Rentiere grasen unbeeindruckt weiter und beäugen uns zwischendurch neugierig. In einer kurzen Regenpause essen wir uns rasch mit ein paar Schokoriegeln Kraft für den Rest der Etappe bis zur nächsten Hütte an.

Kurz vor der Hütte reißen die Wolken wieder auf, geben den Blick auf die blauen Gletscher Norwegens frei. Ein Regenbogen taucht den See zu unserer Rechten in ein fast unirdisches Licht. Saftig grün schimmert das Moos aus einem Tümpel. Das Schneehuhn hinter dem Busch übersehen wir beinahe. So stark beschäftigt uns der Gedanke, daß die Entscheidung der UNESCO goldrichtig war, dieser herrlichen Urlandschaft im hohen Norden das Naturdiplom World Heritage Site zu verleihen. Und die paar Fernsehantennen in Staloluokta, das wir bald darauf erreichen, stören da wirklich nicht.

Planung

Zehn Tage sollte man für die Wanderung durch den Padjelanta-Nationalpark mindestens veranschlagen. Besser ist es, zwei oder drei Ruhetage zwischendurch einzulegen, in denen man die herrliche Landschaft auf sich wirken lassen kann. Oder in denen man Regentage aussitzt. Wer sich die gesamte Wanderung nicht zumuten mag, der kann bis Staloluokta wandern und von dort wieder mit dem Hubschrauber zurückfliegen. Zwischen Juli und Mitte August sind viele andere Wanderer und vor allem Moskitos unterwegs. Bis zur ersten Septemberwoche wird es dann ruhiger, auch die Moskitos sind erfroren. Danach wird die Bootsverbindung zwischen dem Ende des Wanderweges und der Straße bei Ritsem eingestellt, die Wanderung muß also vorher beendet werden. Vor der Sommersonnwende gibt es ebenfalls keine Bootsverbindung.

Die Tagesetappen

sind zwischen vier und sieben Stunden lang, Pausen zählen extra. Die Hütten sind hervorragend eingerichtet, einige verkaufen in der Saison (Juli und August) auch Lebensmittel. Mehr als ein Vorrat für drei oder vier Tage muß also nicht in den Rucksack. In den STF-Hütten am Anfang und Ende der Strecke gibt es einen kräftigen Rabatt für STF-Mitglieder, mit dem die Übernachtung noch etwa dreißig Mark pro Person kostet. Eine Mitgliedschaft im STF (man kann zum Beispiel am Anfang der Tour in Kvikkjokk oder Ritsem eintreten) lohnt sich auf jeden Fall, die Jahresgebühr ist niedriger als die Ersparnis bei den Übernachtungen. Alpenvereinsmitglieder haben kein Gegenrecht.

Die Wege

sind einfach, alpine Schwierigkeiten gibt es keine, die Schweden bezeichnen den Padjelanta gern als Senioren-Wanderung. Trotzdem: Kondition und Durchhaltevermögen sind gefragt. Nur wer bereits lange Wanderungen problemlos durchsteht, sollte den Padjelante unter die Sohlen nehmen.

Die Anreise

erfolgt am besten mit der Bahn, da die Busse nur einmal am Tag fahren und auf die Züge abgestimmt sind. Wer fliegt, muß in Gällivare übernachten und steigt am nächsten Morgen in den gleichen Bus, den auch die Reisenden mit den (preiswerten!) Schlaf- und Liegewagen aus Stockholm erreichen. Da der Scan-Rail-Paß das Bahnfahren in Skandinavien recht billig macht, kann man dann auch gleich aus Deutschland mit dem Zug anreisen. Der erste von zwei Schlafwagenzügen verläßt Stockholm um 18.00 Uhr und erreicht den winzigen Ort Murjek kurz vor 9.00 Uhr am nächsten Morgen. Von dort direkter Bus-Anschluß nach Kvikkjokk (12.00 Uhr). Wer will kann gleich um 13.30 Uhr mit dem Boot zum Beginn der ersten Etappe fahren und zur Njunjes-Hütte weiterlaufen. Auch am Ende der Wanderung muß man mit einem Boot einen See überqueren. Ab Ritsem fährt der Bus dann nach Gällivare, von dort gibt es zwei Schlafwagenzüge nach Stockholm. Wer noch nach Norwegen will, kann mit dem Gegenzug in wenigen Stunden nach Narvik fahren.

Wanderkarten

(am besten die Fjällkartan BD10) sollten unbedingt in den Rucksack. Wer sie vor Reiseantritt bereits studieren möchte, bestellt sie am besten bei nordis, Postfach 100343, 40767 Monheim oder Schrieb - Karten und Reiseführer, Schwieberdingerstr. 10/2, 71706 Markgröningen.

 Fotos: Roland H. Knauer

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