Ein blaues Band durch die Puszta

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In Ungarn kann für Besucher die fremde Sprache eine zunächst unüberwindbar scheinende Barriere sein. Man sucht Anknüpfungspunkte für die oft langen und mit ungewöhnlichen Konsonantenhäufungen verzierten Worte: Das zwischen grünen Hügeln auf dem Weg zum Startpunkt unserer Wanderung liegende Dorf hieß Kökutpuszta. Das paßte so gar nicht zu unserer Vorstellung von Puszta. Einige Tage später, wir waren nun schon Dutzende Kilometer durch Laubwälder gegangen, hieß ein einsamer Hof Szelcepuszta. Unser Wörterbuch übersetzte Puszta mit „Einöde, verlassen“. Solche Einsamkeit schätzen Wanderer. Später in Südungarn sollten wir noch den anderen, mehr unseren Vorstellungen entsprechenden Typ von Puszta finden. Doch Verständigungsängste sollten nicht der Grund sein, nicht in das fremde, interessante Land zu fahren. Sehr viele Ungarn sprechen deutsch oder englisch; für einige Fragen half auch -siehe oben- das Wörterbuch.

Wir wußten nur sehr wenig über die Wanderverhältnisse in Ungarn, eigentlich nur, daß auch durch dieses Land Europäische Fernwanderwege führen. Als Anlaufadresse hatten wir die Zentrale der Naturfreunde in Budapest. Dort bekam ich ein Heft mit Kartenskizzen und vielen Ortsnamen. Daraus ließen sich Tagesmärsche zusammenstellen. Für die Ungarn dient dient das Heft hauptsächlich dazu, sich an Zwischenetappen Stempel geben zu lassen, um zum Schluß Anrecht auf eine Auszeichnung zu haben. Diese uns ein wenig „sozialistisch“ anmutende Sache praktizierten wir nicht. Wir trafen Einzelwanderer und Jugendgruppen und einmal stießen wir auf einen Streckenbetreuer, einen betriebsamen älteren Mann, der gut deutsch sprach und lebhafte Erinnerungen an die Zeit des Freundschaftsweges Eisenach-Dresden-Budapest hatte und auch noch einen Vorrat von den damaligen Anstecknadeln besaß.

Eines der nächsten ungarischen Worte, das wir lernten, war „kek“, d.h. blau. Auf blaue Striche zu achten, wurde zu unserer zweiten Natur. Doch war die Markierung über die ganze Zeit unserer zehntägigen Wanderung gut, wenn auch auf manchen Etappen etwas verblaßt. Es gab aber auf unseren Karten und in der Örtlichkeit auch noch rote, grüne und gelbe Striche und Wege. So lernten wir noch andere Farbnamen, z.B. „pirosch“ für Rot. Da half eine Gedankenverbindung zu einer Filmfigur der 50er Jahre. Für uns hatte Blau die Priorität, denn das war die Farbe der Fernwanderstrecken. Unsere Route war die Kektura, „die blaue Tour“. Nach und nach begriffen wir das System der ungarischen Wanderwege: In landschaftlich schönen Gebieten existiert ein Geflecht von vielen markierten Wegen, doch den Hauptstrang bilden die blauen Strecken, die zum größten Teil auch Bestandteile des Netzes der in den 80er Jahren definierten Europäischen Fernwanderwege sind.

Die blauen Strecken bilden einen Ring um das Land und sind nach Westen mit den österreichischen und slowenischen Fernwanderwegen verbunden. Die Übersichtskarte zeigt auch eine Weiterführung des E6 nach Rumänien. Dieses „blaue Band“ hat eine Länge von etwa 2.300 km und wurde überwiegend am Rand des Landes trassiert. Vom Donauknie nördlich von Budapest geht die „blaue Tour“ in Richtung Osten durch das Matra-Gebirge und die angrenzenden Bergwälder. An wenigen Punkten erreicht der Weg Höhen von 1000m. Die Fortsetzung entlang der rumänischen Grenze geht durch die Tiefebene. Erst wenn der Weg zwischen Szeged und Pecs die Donau gequert hat, kommt er wieder in Hügelland und berührt den Plattensee, den Balaton, an der Nordwestecke. Von dort erreicht man durch eine sehr abwechslungsreiche Landschaft wieder Budapest. Wir wählten zum Kennenlernen den Nordostabschnitt. Lange Strecken durch herrliche Buchen- und Eichenwälder wechselten mit landwirtschaftlich genutzten Flächen.

Mit großer Anteilnahme gingen wir durch die Dörfer. Es waren langgezogene Straßendörfer. Häufig überwogen noch die traditionellen Hausformen. Besonders gut gefielen uns die schmalen, in die Tiefe eines Grundstückes reichenden Häuser mit einer vorgelagerten Pfeilerloggia. Weißgekälkte Gebäude kontrastierten mit bunten Gärten und grünen Obstbäumen. Zwischen dem Fußweg vor den Häusern und der Straße lag meist ein Grünstreifen, entweder als Rasen mit Obstbäumen genutzt oder mit Sträuchern und Blumen geschmückt. In einem besonders schönen Dorf gingen wir an Hunderten von blühenden Malven entlang.

Es war aber keineswegs immer eine „heile Welt“, durch die wir gingen. Oft waren es alte Menschen, die uns freundlich zunickten oder ansprachen- und ganz erstaunt waren, daß sich bis hierhin Ausländer verirrt hatten. Die jungen Leute waren wohl oft in die Städte gezogen. Wir sahen leerstehende verfallende Häuser. Wir sahen aber auch oft verwahrloste Häuser, die keine Blumengärten und gepflegten Zäune hatten, aber von vielen Menschen bewohnt waren. Schon frühmorgens drang laute Radiomusik nach draußen. Dann konnten wir ziemlich sicher sein, daß hier eine Roma-Familie in ein leergezogenes Haus eingewiesen worden war. Zum Wandern braucht man Flüssigkeiten. Und wenn ich morgens unseren Tages-Vorrat an Mineralwasser und Weißwein in einem der in jedem Dorf reichlich anzutreffenden „Italbolt“, zu deutsch Getränkegeschäft, auffüllen wollte, traf ich meist dort schon den einen oder anderen arbeitslosen Stammkunden an.

Die Regierung hat die Strukturschwäche der Nord-Ost-Region begriffen und ein komplexes Dorferneuerungsprogramm begonnen. Der Anbau und die Vermarktung von Obst und Gemüse und besonders von Heilkräutern und Gewürzen und auch von Hanf werden unterstützt; Feriendörfer und Unterkünfte für ältere Menschen sollen geschaffen werden und Fremde sollen in den Dörfern übernachten können. Von dieser letzten Sache profitierten wir mehrfach auf sehr eindrückliche Weise: In Irota war ein kleines Gehöft mit sehr viel Liebe für das Detail als Übernachtungshaus hergerichtet worden. Eine Frau aus dem kleinen Dorf hatte die Aufsicht und bereitete uns aus eigenen Vorräten, weil der Laden schon geschlossen war, ein schmackhaftes Essen.

Einige Tage zuvor hatten wir in einem ehemaligen calvinistischen Pfarrhaus geschlafen, wo Doppelstockbetten den Charakter einer Jugendherberge erzeugten. Aber die mächtigen Deckenbalken in den großen Räumen und die breite Säulenloggia vor dem weißgekälkten Gebäude, das von weit sichtbar über dem Dorf lag, vermittelte, wie wichtig früher die Geistlichkeit in den Dörfern war.

Wie sonst gewohnt wurde, erlebten wir an verschiedenen Beispielen. Nur an wenigen Punkten entlang unserer Strecke gab es Hotels; die Regel war, daß wir an den Etappenorten fragten, wer Zimmer vermietet. Ein bißchen Geduld und Zuversicht brauchten wir, die Sprachbarriere demonstrierte letztlich unsere Hilflosigkeit und führte mehrmals dazu, daß den so unerwartet hereingeschneiten Fremden schließlich ein Zimmer im eigenen Haus oder in der Nachbarschaft angeboten wurde. Die schon angesprochene Landflucht hat dazu geführt, daß einige Familien mehrere Häuser besaßen oder nur noch Teile weitläufiger Anlagen bewohnten.

Unsere „blaue Tour“ führte uns mehrmals ganz nahe an die slowakische Grenze. Obwohl wir wußten, daß von ihr keine Gefahr ausgeht, machte uns das hier noch ruhiger als sonst daliegende Land etwas beklommen. Viele Kontakte hinüber schien es nicht zu geben; wenn ich versuchte „slawische“ Vokabeln anzubringen, scheiterte ich regelmäßig. Desto bemerkenswerter schien mir ein von der Europäischen Union angestoßenes Projekt eines gemeinsamen slowakisch-ungarischen Reiseführers zu den Sehenswürdigkeiten beiderseits der Grenze.

Daß wir uns in einem Gebiet mit sich überlagernden Geschichtsspuren befanden, stellten wir mehrfach fest: Die Dorfkirchen waren nur selten katholisch. Nach dem Josephinischen Toleranzedikt hatten sich die reformierten Gemeinden viele Gotteshäuser gebaut. Ebenso stießen wir auf Kirchen mit Ikonostasen, d.h. der in der Ostkirche üblicher Abtrennung von Gemeinderaum und Allerheiligstem. Es waren aber orthodoxe Gemeinden, die den Papst als Oberhirten anerkennen. Sarospatak, der Endpunkt unserer nordungarischen Wanderung, war der Geburtsort der Heiligen Elisabeth, der nach Thüringen verheirateten Landgräfin. Aber dort befindet sich auch, vor 200 Jahren gefördert durch antihabsburgische Adlige, eine ausgedehnte reformierte Hochschule, ein kleines „Harvard in der Puszta“, wie sich uns gegenüber ein Ungar ausdrückte.

Um auch noch andere Facetten der ungarischen Landschaft kennenzulernen, wanderten wir zum Schluß noch einige Tage in dem „Alföld“, der Tiefebene im Süden. Auch hier war die Markierung ausreichend, doch spürten wir, daß die Strecke weniger begangen wird. Das weite flache Land, was für uns so typisch ungarisch ist, mag für die Ungarn selbst nur ein geringer Ansporn sein, es mühsam zu Fuß zu durchqueren. Die große Einsamkeit war eindrücklich. Der Wanderweg folgte oft langen Baumreihen, viel Pappeln, dazwischen Robinien, Nußbäume und Mirabellen. Wir beobachteten intensive Landwirtschaft; die Verwandlung von Mais in Schweinefleisch war auch am Geruch nachzuvollziehen. Leere oder halbgenutzte Gebäude erinnerten an die DDR-Landwirtschaft. Die Dörfer waren nicht so charaktervoll wie im Gebirge. Wir vermißten auch die guten 1:50.000-Landkarten, die es für den Norden und den Westen Ungarns gibt. Doch wir fühlten uns entschädigt durch die Fülle von Tieren, insbesondere von Vögeln, die wir unterwegs sahen. Als wir am letzten Tag an einer Reihe großer Grabhügel vorbeikamen, hatten wir das Gefühl, das mythischen Zentrum des Landes gestreift zu haben.

Diese Ausführungen sollen ganz generell einladen, nach Ungarn zu fahren und dort auch zu wandern. Für diejenigen, die unsere Erfahrungen direkt nachvollziehen wollen, hier der Verlauf unserer Tour:

Ausgangsort in Nordungarn: Sirok, private Unterkunft

1. Tag bis Szarvaskö, 17,5 km, private Unterkunft

2. Tag bis Bankut, 33 km, Hotel

3. Tag bis Putnok, 27 km, private Unterkunft

4. Tag bis Zadorfalva, 18,5 km, Wandererherberge

5. Tag bis Josvafö, 27 km, Hotel

6. Tag bis Bodvaszilas, 27 km, private Unterkunft

7. Tag bis Irota, 26,5 km, Touristenhaus

8. Tag bis Baktakek, 18 km, private Unterkunft

9. Tag bis Boldogkövaralja, 23 km, private Unterkunft

10. Tag bis Kökapui, 30 km, Schloßhotel

11. Tag bis Sarospatak, 24 km, Pension

12. Tag Rückfahrt mit Eisenbahn bis Sirok

Ausgangsort in Südungarn: Szeged, Hotel

1. Tag (mit Taxi nach Sandorfalva) bis Mindszent, 30 km, private Unterkunft

2. Tag bis Nagymagos, 30 km, private Unterkunft

3. Tag bis Cadoros, 16 km, Rückfahrt mit Bahn nach Szeged

Weitere Informationen:

Ungarischer Naturfreundebund: Magyar Termeszetbarat Szövetseg HU-1065 Budapest, Bajcsy-Zsilinsky Ut 31.II.3 Tel. :0036(-1)311-2467 und 311-9289, Fax: 0036(-1)353-1930

Fachgeschäft für Landkarten: Földgömb-es Terekbolt HU-1065 Budapest, Bajcsy-Zsilinsky Ut 37 Tel./Fax:0036(-1)312-6001

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